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Woche 6 Camino Francés Sarria - Santiago de Compostela

Es ist nicht mehr weit. Es liegt nur noch der Teil des Francés vor mir, den statistisch gesehen die meisten Pilger gehen. Die letzten Hundert Kilometer ab Sarria. Das heißt, es wird wohl richtig voll in dieser letzten Woche. Es sieht sogar aus, als komme ich einen Tag früher an als geplant und habe einen extra Tag in Santiago. Der Gedanke gefällt mir. Was ich von dem Rest halten soll, weiß ich noch nicht so genau. Mal abwarten. Alle wahrhaft großen Gedanken kommen beim Gehen.




Tag 36 Sarria - Portomarin


"Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen ist es schwer.“

(Seneca)



Unverhofft kommt oft. Ich hatte keine Ahnung, welches Highlight am Ende dieser Etappe auf mich wartet.

Ich stehe allein vor der sehr langen Brücke nach Portomarin und wünsche mir mehr als alles andere eine riesengroße Portion Sorglosigkeit mit einem gigantischen Topping Zuversicht. Und einem Eiswäffelchen. Ich habe Angst. Angst über diese hohe Brücke, eingequetscht auf 50 Zentimeter zwischen Leitplanke und Spielzeuggeländer, nahe am Abgrund zu gehen. Ausgerechnet jetzt ist niemand da, an dessen Fersen ich mich heften kann. Der mich "mitnimmt".

Ich könnte warten. Tue ich aber nicht.

Ich atme tief ein. Blick nach links auf die Straße geheftet renne ich los, so schnell ich noch kann nach über 20 Kilometern mit meinem Rucksack. In meinen Ohren rauscht das Blut, das Herz überschlägt sich fast. Ich konzentriere mich auf meinen Atem und versuche meinen Geist zu beherrschen und den Rest zu ignorieren.

Erschöpft komme ich nach einer Ewigkeit auf der anderen Seite an. Adrenalin pur.

Andere mögen drüber lachen - für mich war das tatsächlich die herausforderndste Situation meines gesamten Caminos.

Ich habe sie gemeistert. Oder vielmehr, meinen Geist.




Tag 37 Portomarin - Palas del Rei

" Es ist doch schon Mitte Oktober - wie muss es hier denn dieses Jahr in der Hauptsaison zugegangen sein?"

(eine Pilgerin zu mir)



Heute ist Feiertag in Spanien und angenehmes Wetter.. Dies lockt zu dem schon sehr hohen Langzeitpilgeraufkommen in diesem rekordzahlenverdächtigen Jahr noch zusätzliche Tagespilger an. Seit Sarria fühlt sich für mich der Camino anders an. Ich verstehe, dass ich kein exklusives Vorrecht auf Ruhe und Stille gebucht habe, dass jeder seinen Camino gehen muss und alle Pilger gleich sind. Trotzdem. Ich kann es nicht verhindern, ich ärgere mich über respektlose Menschen aus aller Welt, in allen Altersklassen, die in Gruppenverbänden laut schreiend miteinander kommunizieren, Müll hinterlassen oder mit aufgedrehter Musik tags wie nachts rücksichtlos ihre Umwelt beschallen. Ich bin entsetzt über aus den Nähten platzende Cafes an denen man für Tee und Toilette jeweils dreißig Minuten anstehen muss, und über die Grußlosigkeit , die mit diesem Massenphänomen nun Einzug gehalten hat.

Ich will mein "präsarriatisches" Caminofeeling festhalten.

Alles ist Wandel und Veränderung ausgesetzt. Stetig. Auch das pilgern. Ob immer zum Guten steht auf einem anderen Blatt.

Es fällt mir heute sehr schwer das zu akzeptieren und auszuhalten.



Tag 38 Palas del Rei - Arzua

So wanderful!


Neuer Tag, neues Glück. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es einige Pilger gibt, die zum Endspurt ansetzen und deshalb mit Siebenmeilenstiefeln unterwegs sind. Die sich keine Pause gönnen und wirklich froh sind, wenn Sie in zwei Tagen in Santiago ankommen, um einen Haken an den Camino Frances machen zu können.

Und dann gibt es noch die Pilger, die gelassen wandern und traurig sind, dass sich das Ende eines Abenteuers nähert, das zweifelsohne Spuren in ihrem Leben hinterlassen wird.

Es ist ein großes Abenteuer. Es sind tiefe Spuren, die bleiben.



Tag 39 Arzua - O Pedrouso

"Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar"

(Antoine Saint- Exupery)


Eukalyptuswälder. Ich zerreibe ein Blatt zwischen den Fingern, um den Duft einzuatmen.

Nach einiger Zeit unterwegs, lange bevor ich den Ursprung sehe, höre ich das gekonnte Spiel auf einer Flöte. So entzückend und klar, energetisch und melancholisch ist die Melodie, dass sie mich direkt ins Herz trifft. Die Tränen laufen mir wasserfallartig einfach die Wangen hinunter so berührt es mich. Gefangen zwischen einen Mix aus Dankbarkeit und Traurigkeit folge ich den magischen Tönen.

Hinter der nächsten Anhöhe sehe ich einen grasenden Esel, rechterhand den langhaarigen Musikanten, der sich kurz darauf als Ungar entpuppt. Zusammen mit seinem Langohr ist er den Camino schon einige Male gelaufen. Er hat sogar ein Buch darüber geschrieben, das er bislang nur auf ungarisch verkauft. Daran mag es liegen, dass es noch nicht vergriffen ist. Seine Freundin ist eine wirklich begabte Zeichnerin. Sie hat das Buch illustriert und verkauft ihre Zeichnungen und Amulette ganz in der Nähe.


Tag 40 O Pedrouso - Santiago de Compostela

"Wer etwas will findet Wege. Wer etwas nicht will findet Gründe".

(Dalai Lama)






Wettermäßig endet es so, wie es in den Pyrenäen begonnen hat: mies.


Für mich ist das Ankommen in Santiago ganz eigenartig. Eine kleinere Welle der Emotion überrollt mich, als ich ein paar Hundert Meter vor der berühmten Plaza del Obradoiro den ersten Blick auf die Turmspitzen der Kathedrale erhasche. Sie verschwindet schnell wieder.

Minuten später stehe ich schon auf dem Platz. Ich horche überrascht in mich Hinein. Was will jetzt an die Oberfläche?

NIichts. Nur Stille. Ist es tatsächlich so, dass es nicht auf die Ankunft in Santiago selbst ankommt, sondern nur auf den Weg, den inneren Reifeprozess, den man bis hierher zurückgelegt hat?

Ich schaue das emotional überbordende Treiben rings um mich herum an, treffe auf alte Caminofreunde., die mich fest und herzlich umarmen. Ja. Ich bin tatsächlich da. Ich habe nicht aufgegeben. Ich habe meinen Weg gefunden, trotz Widrigkeiten.

Wieder bin ich ganz verwundert über mein Verhalten. Wo ist die überschäumende Freude, die ich am Cruz de Ferro gespürt hatte? Wo sind die Erleichterung ,der Stolz, die Dankbarkeit angekommen zu sein?


Wahrscheinlich muss ich all das erstmal sacken lassen. Wunder brauchen ihre Zeit.


Tag 41 Santiago de Compostela


"Es gibt Berge über die man hinüber muss, sonst geht der Weg nicht weiter. "

(Ludwig Thoma)


Eigentlich wollte ich an meinem letzten beiden Tagen in Santiago mit dem Bus nach Fisterra fahren. Zum Ende der Welt, zum Kilometerstein Null. Ich hätte noch einen letzten Stein für diesen besonderen Platz gehabt. Aber das Wetter bleibt nass und stürmisch, außerdem habe ich keine Lust auf die lange Busfahrt. Also lass ich es.

Stattdessen laufe ich durch Santiago, treffe Pilgerfreunde, gehe in die Pilgermesse und bedanke mich beim Apostel, dass ich diese Lebenserfahrung machen durfte. Meine letzten Jahre und auch besonders das Jahr 2022 waren zeitweise durchaus mental herausfordernd. Aber ich weiß nicht, ob ich ohne die mir in den Weg gelegten Steine, jemals in Santiago angekommen wäre. Wäre da nicht immer eine vordergründige Ausrede gewesen nicht den ersten Schritt zu tun?

Mir wird in diesen Tagen klar, dass ich zurückkehren werde nach Santiago. Dass ich den Weg nach Finisterre zu Fuß gehen werde. Im Mai 2023. Und alles was danach kommt? Ist Bonusmaterial! Aber Ideen hätte ich schon genug....


Just walk it!


 


Hat euch mein Blog gefallen? Habt ihr noch Fragen ?Dann lasst mir gerne einen Kommentar da.

2 Comments


knumel123
Jan 19, 2023

Liebe Sandra ich danke Dir herzlich dass Du mich auf deinem Camino mitgenommen hast. Wie wunderbar, dass du dieses Jahr von Santiago nach Finisterre gehen willst. Grade im Moment (nachts um 1 uhr in einer schlaflosen Nacht mit tausend blöden Gedanken im Kopf, hat es mir gut getan, den Weg in deinem Blog und in den Bildern mitzugehen. Ich wünsche Dir allen Segen dass du eine gute Zeit hast im Mai. Dein Pilgerstein wird dann seinen Platz finden. Den Stein den ich von Dir habe zieht nun mit an einen neuen Ort. Aber wenn ich ab Frómista weitergehe, wird er mich begleiten. Danke für seine Rolle Art zu schreiben. Sag mir wenn dein Buch fertig ist.....

Eine Frage wirst du…

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knumel123
Jan 19, 2023
Replying to

Sollte natürlich heißen .... Danke für deine tolle Art..... 🙈🥴

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